Anmerkungen zur Unechten Teilortswahl in Sinsheim

von Martin Sichelstiel

Am 18. April 2023 entschied der Gemeinderat in Sinsheim, dass die unechte Teilortswahl in Sinsheim
abgeschafft wird (27 ja-stimmen, 18 nein-stimmen).
Die unechte Teilortswahl ist Bestandteil der Verfassung des Bundeslandes Baden-Württemberg und
erlangte besondere Bedeutung durch die Gebietsreform im Jahr 1972, um sicherzustellen, dass die
eingemeindeten Orte im Gemeinderat auf jeden Fall vertreten sind. Auch in Sinsheim wurde im Zuge
der Eingemeindungen der 12 Ortsteile im Jahr 1971/2 die unechte Teilortswahl eingeführt.
Im Jahr 2014 wurde die Abschaffung der unechten Teilortswahl in einem Bürgerentscheid abgelehnt
(29,29% vs 15,82%).
Ein Bürgerentscheid kann innerhalb von drei Jahren nur durch einen weiteren Bürgerentscheid
abgeändert werden.
Die Ortschaftsverfassung mit den Ortschaftsräten und dem Ortsvorstehern sind von der Diskussion
über die unechte Teilortswahl unabhängig. Niemand will eine Abschaffung oder eine Änderung.

Zur Abstimmung am 18.4.23 im Gemeinderat
Da die Materie kompliziert ist, fand vor der Abstimmung im Gemeinderat am 21.Januar 2023 eine
Informationsveranstaltung für alle Gemeinderäte statt, bei dem Experten das Verfahrung, Vor- und
Nachteile erläuterten. Auch die nicht im Gemeinderat vertretenen Ortvorsteher waren dazu
eingeladen.
Bei der Abstimmung am 18.4. wurde eine geheime Wahl beantragt und der Gemeinderat stimmte der
geheimen Abstimmung zu.
In der Regel wird im Gemeinderat offen abgestimmt. Auf Antrag kann eine geheime Abstimmung
stattfinden. Bei sehr strittigen oder emotional aufgeheizten Themen ist die geheime Abstimmung ein
probates Mittel, um zu einem echten Meinungsbild der Gemeinderäte zu kommen.
Selbstverständlich ist eine geheime Abstimmung demokratisch.
Der Vorschlag, die Entscheidung über die Abschaffung erneut über einen Bürgerentscheid in die
Hände der Bürgerinnen und Bürger zu legen, fand keine Mehrheit.
Aufgrund einer Unterschriftensammlung wird es jetzt einen Bürgerentscheid geben.

Abwägungen dafür und dagegen
Natürlich ist es von Vorteil, wenn die Ortsteile im Gemeinderat vertreten sind.
Da der Gemeinderat die Bevölkerung vertritt und in vielen Fragen über die Zukunft von Sinsheim
entscheidet, ist es wichtig, dass möglichst viele gesellschaftliche Gruppen im Gemeinderat vertreten
sind: das gilt für die Ortsteile, aber natürlich auch für Stadtteile aus der Kernstadt, die alles andere als
homogen sind (Gartenstadt, Südstadt, Sinsheim Ost…), für Menschen mit und ohne
Migrationshintergrund, für Menschen aus verschiedenen Berufen, für Männer und Frauen, für Junge
und Alte, für Berufstätige und Rentner und Menschen mit und ohne Handicap usw.
Die Parteien und Wählergruppierungen haben die Möglichkeit bei der Aufstellung der Wahllisten,
eine breite Abdeckung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Eine Quote, wie sie die
unechte Teilortswahl für die Teilorte darstellt, macht nur Sinn, wenn das Gehör oder die Mitwirkung
auf keine andere Weise sichergestellt werden kann. Das ist 50 Jahre nach der Eingemeindung für die
Teilorte nicht der Fall. Schon allein die Ortschaftsverfassung stellt sicher, dass die Teilorte gehört
werden. Nach 50 Jahren große Kreisstadt hat sich zudem ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt, bei
dem die Identität der Teilorte und die Zugehörigkeit zur Stadt Sinsheim kein Widerspruch sind.
Dazu kommen einige unmittelbare Nachteile der unechten Teilortswahl:

  • Das Wahlverfahren ist kompliziert. Kumulieren und Panaschieren in Verbindung mit der
    Unechten Teilortswahl können leicht zu teilweise ungültigen Stimmzetteln führen.
  • Die Stimmen sind nicht gleich gewichtet – in einem Teilort reichen u. U. weit weniger
    Stimmen, um gewählt zu werden, als in der Kernstadt
  • Der Gemeinderat wird wesentlich größer, aktuell gibt es 45 Mitglieder und 13 Ausgleichssitze,
    die durch die unechte Teilortswahl entstehen.

Vor Sinsheim liegen große Herausforderungen (Wohnen, Schulen, Mobilität, Klima, ländliche
Entwicklung, Digitalisierung …). Dem Gemeinderat kommt bei der Bewältigung eine entscheidende
Aufgabe zu. Er legt fest, in welche Richtung sich die Stadt als Ganzes entwickelt. Bei der anstehenden
Wahl werden sich Kandidatinnen und Kandidaten mit ihren Kompetenzen und ihren Konzepten zur
Wahl stellen. Dabei sollte die Persönlichkeit, die Integrität und die inhaltlichen Ideen entscheidend
sein. Die Herkunft aus der Kernstadt oder einem Stadtteil tritt dagegen zurück und spielt nur eine
untergeordnete Rolle, die das Beibehalten der Unechten Teilortswahl nicht rechtfertigt.

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